Nach der nicht unbedingt erwarteten, aber doch schon im Vorfeld nicht besonders unwahrscheinlichen Auftaktniederlage gegen Ungarn steht das österreichische Nationalteam bereits heute gegen Portugal mit dem Rücken zur Wand. Wenn das angepeilte Ziel Achtelfinale erreicht werden soll, muss gegen den Gruppenfavoriten unbedingt gepunktet werden, ansonsten droht ein frühes Aus oder zumindest eine unangenehme Zitterpartie gegen Island im letzten Gruppenspiel.
Wie aber schauen die Chancen auf einen Turnierverbleib nach der Gruppenphase abhängig von den Ergebnissen in den letzten beiden Spielen generell aus? Um diese Frage zu beantworten, habe ich ein kleines kontrafaktisches Experiment angestellt. Als Datengrundlage dienten mir die letzten fünf FIFA-Weltmeisterschaften, da die Simulationen auf Basis der Europameisterschaften aufgrund des geänderten Modus fragwürdig wären. Natürlich hätte man auch die WM-Turniere 1986, 1990 und 1994 als Datengrundlage verwenden können. Dies hätte den Vorteil, dass diese nach einem ähnlichen Modus wie die aktuelle Euro (sehcs Gruppen, 16 Aufsteiger in die KO-Phase) gespielt wurden. Allerdings funktionierten zwei dieser drei Endrunden nach der Zweipunkteregel. Die Änderung auf Dreipunkteregel änderte den strategischen Charakter des Spiels massiv, da es in Bezug auf die verteilten Punkte von einem Nullsummenspiel zu einem Nicht-Nullsummenspiel wurde, womit die Vergleichbarkeit fragwürdig erscheint.
Deshalb habe ich alle der fünf letzten WM-Turniere so ausgewertet, als wären sie wie die aktuelle Euro mit sechs (statt der tatsächlichen acht) Gruppen ausgespielt worden. Dabei habe ich jede mögliche Kombination der sechs aus den tatsächlichen acht Gruppen wie ein eigenständiges Turnier behandelt und untersucht, welche vier Gruppendritten aufgestiegen wären bei einem zur Euro 2016 äquivalenten Modus. Da dies pro Weltmeisterschaft 28 mögliche Kombinationen sind, ergibt sich eine Fallzahl von 140 hypothetischen Turnieren beziehungsweise 3360 Teilnehmern (5 Turniere * 28 Kombinationen * 6 Gruppen * 4 je vier Teilnehmer). Diese Stichprobe ist ausreichend, um zu prüfen, wie die konkreten Aufstiegswahrscheinlichkeiten gegeben eine gewisse Anzahl an Punkten und Tordifferenz mittels logistischen Regressionsmodellen zu schätzen.
Im ersten Fall habe ich mich nur mit dem Einfluss der erreichten Punkte auf die Wahrscheinlichkeit, das Achtelfinale entweder als Erster, Zweiter oder einer der vier besten Gruppendritten zu erreichen, beschäftigt. Diese sind im Säulendiagramm in Graphik eins dargestellt (ein Balken für funf Punkte fehlt, da Österreich diese Anzahl nicht mehr erreichen kann). Wir sehen, dass die Aufstiegswahrscheinlichkeit im Fall von vier oder sechs Punkten de facto 100 Prozent beträgt, sich man also schon sehr weit an (real natürlich nicht existierende) Sicherheiten annähert. Ein Sieg in einem der beiden verbleibenden Spiele und ein Punkt im anderen hieße also ziemlich sicher, das Achtelfinale zu erreichen. Wohlgemerkt: Dieses Modell trifft keine Ausssage darüber, ob das auf Platz 1, 2 oder 3 geschieht. Dazu später mehr.
Graphik 1 |
Auch wenn in den beiden verbleibenden Spielen "nur" ein Sieg gelänge und das andere verloren ginge, wäre noch längst nicht alles verloren. Mit 60% wären die Aussichten auf das Achtelfinale immer noch relativ hoch, dann allerdings umso mehr abhängig von der Tordifferenz und damit der konkreten Ergebnisse der verbleibenden Spiele. Vor diesem Hintergrund schmerzt das Kontertor zum 0:2 im ersten Spiel umso mehr, da es potentiell entscheidende Auswirkungen haben könnte.
Was ziemlich sicher nicht funktionieren wird, ist ein Aufstieg, wenn man im Turnier weiter sieglos bleibt. Bei null erreichten Punkten ist die Wahrscheinlichkeit, im Turnier zu verbleiben, logischerweise auch null. Bei einem Remis und zwei Niederlagen ist sie nur unwesentlich höher (tatsächlich geschafft hat das noch nie eine Mannschaft, aber möglich wäre es). Auch bei zwei Unentschieden müsste das Nationalteam sehr wahrscheinlich schon wieder die Heimreise antreten.
Angesichts der Tatsache, dass Österreich im Falle von zwei Unentschieden die Gruppenphase auf jeden Fall mit einer Tordifferenz von -2 abschließen würde, sinkt die Wahrscheinlichkeit für einen Aufstieg sogar noch weiter, nämlich auf 2,3%. Das liegt daran, dass man in diesem Fall noch nicht einmal fix den dritten Rang belegen würde (das hinge dann vom Ausgang der Partie Island gegen Ungarn ab) und natürlich im Vergleich zu den anderen Gruppendritten enorm schlecht dastünde. Ein Sieg mindestens ist also Pflicht.
Wie hoch sollte dieser allerdings ausgehen? Spielt die Tordifferenz dabei überhaupt eine Rolle? Dafür habe ich das Modell erweitert und aufgrund der Ergebnisse prognostiziert, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für einen Aufstieg abhängig von der Tordifferenz gegeben eine fixe Anzahl an Punkten ist. Ich habe mich dabei auf drei beziehungsweise vier Punkte beschränkt, da mit weniger das Turnier für das Team ziemlich sicher zu Ende geht und mit mehr der Aufstieg beinahe sicher ist.
In Graphik 2 ist die Aufstiegswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der Tordifferenz gesetzt den Fall, dass drei Punkte erreicht werden, dargestellt. Dafür müsste das Team also eines der Spiele gewinnen und das andere verlieren. In diesem Fall wäre die Tordifferenz von entscheidender Bedeutung. In meiner Stichprobe erreichten 483 Teams drei Punkte, von denen 280 den Aufstieg geschafft hätten (58%). Dies weist schon darauf hin, dass der Vergleich zwischen den Teams in punkte Tordifferenz (und weiter anhand der geschossenen Tore) häufig den Ausschlag gegeben hätte.
Graphik 2 |
Die Kurve in Graphik 2 beginnt ziemlich weit unten, steigt dann aber relativ schnell an. Eine Tordifferenz von -4 nach drei Punkten hieße ein relativ sicheres Ausscheiden aus dem Turnier. Im konkreten Fall Österreichs wäre das beispielsweise eine 0:3-Niederlage in Kombination mit einem knappen Sieg mit einem Tor Unterschied, also nicht das unwahrscheinlichste Szenario. Wenn es jedoch gelänge, dass Sieg und Niederlage mit dem gelichen Ergebnis aus Sicht des Siegerteams endeten, sähe die Sache schon sehr viel anders aus. Dann hätte das Team am Schluss eine Tordifferenz von -2 und wäre mit 50%iger Wahrscheinlichkeit im Achtelfinale. Alles, was darüber liegt, steigert die Chancen auf einen Turnierverbleib natürlich beträchtlich. Schon bei einer Endtordifferenz von -1 betragen die Chancen darauf etwa 2/3, ab einer ausgeglichenen Torbilanz wäre man beinahe sicher im Achtelfinale. Auch das weist darauf hin, dass das zweite Gegentor gegen Ungarn besonders ärgerlich war, da es ein Ausgleichen der Tordifferenz in den verbleibenden Spielen massiv erschwerte.
Graphik 3 |
Sollte Österreich es jedoch schaffen, in den verbliebenen Partein ungeschlagen zu bleiben und eine davon zu gewinnen, sind die Chancen auf das Achtelfinale beträchtlich, wie Graphik 3 zeigt. Die x-Achse beginnt hier erst bei -1, da Österreich bei diesem Szenario (ein Sieg und ein Remis) schlechtestenfalls eine um eins negative Torbilanz hätte. Allerdings kratzt die Aufstiegswahrscheinlichkeit schon in diesem Fall an 99%. In meiner Stichprobe hätten nur drei von 609 Teams, die vier Punkte erreichten, den Aufstieg nicht geschafft, also 0,5% (oder eine von zweihundert). Sollte das Team also beispielsweise heute gewinnen, stünden die Chancen auf einen Turnierverbleib bereits sehr gut. Lediglich 15% der Teams mit einem Sieg in meinem Sample hätten den Aufstieg nicht geschafft, mit zwei Siegen wäre er ohnehin fix.
Bislang haben wir uns allerdings nur mit dem Aufstieg generell befasst, also inklusive der Möglichkeit, als einer der vier besten Gruppendritten weiterzukommen. Dies ist jedoch trotz aller Wahrscheinlichkeiten eine unsichere Sache, da man dabei noch mehr von Leistungen und Ergebnissen abhängt, auf die man überhaupt keinen Einfluss hat, da sie in anderen Gruppen geschehen. In einem letzten Schritt habe ich deswegen die Wahrscheinlichkeiten für einen sicheren Aufstieg (also als Gruppenerster oder -zweiter) modelliert und in einer Heatmap dargestellt (siehe Graphik 4).
Graphik 4 |
Je dunkler das Blau in einem Feld ist, desto höher ist also die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Kombination einen der beiden vordersten Plätze zu belegen. Felder, die keine Farbe haben, sind Kombinationen, die für das ÖFB-Team nicht mehr möglich sind (bei sechs Punkten hätte man beispielsweise mindestens +-0 als Tordifferenz).
Wir sehen, dass diese relativ gering sind (unter 50%) bei allen Kombinationen der Tordifferenz mit drei Punkten. Auf einen Sieg und eine Niederlage zu setzen, ist also ein zweischneidiges Schwert. Nur 4% der Teams in meiner Stichprobe, die drei Punkte erreichten, lagen am Ende auf Platz zwei (keins auf Platz eins). Auch bei vier Punkten ist man von Sicherheit noch recht weit entfernt. Etwa die Hälfte der Teams mit vier Punkten kamen auf Platz zwei, die andere Hälfte auf Platz drei. Das steht etwas im Gegensatz zu Graphik 3, die bei vier Punkten einen beinahe sicheren Aufstieg prognostiziert. Das Paradoxon ist allerdings schnell aufgelöst: Auch wenn ein Team vier Punkte erreicht und Gruppendritter wird, ist es ziemlich sicher weiter. Lediglich drei von 294 Teams mit vier Punkten auf Platz 3 in meinem Sample (1%) hätten den Aufstieg nicht geschafft. Bei sechs Punkten könnte man sich jedoch schon relativ sicher sein, fix weiterzukommen. In meinem Sample gibt es keine Mannschaft, die mit sechs Punkten nicht als beste oder zweitbeste der Gruppe abschloss, rein technisch wäre es jedoch möglich.
Als Fazit kann man festhalten, dass die Lage der österreichischen Nationalmannschaft längst nicht so trist ist, wie sie mancherorts bereits gezeichnet wird. Das Achtelfinale liegt weiterhin absolut im Bereich des Möglichen. Notwendig dafür wird jedoch wahrscheinlich sein, keines der verbleibenden Spiele mehr zu verlieren und mindestens eins davon zu gewinnen. Sollte dies gelingen, kann man sich bereits mit möglichen Gegnern für die KO-Phase befassen.
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